Projektseminar: Geschichte der Filmkameratechnik, SS 2016

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1) Verschiedene Aspekte der "Konvergenzthese"

- Die Frage, ob es eine von der Kinoästhetik klar unterscheidbare Videoästhetik gibt, oder ob mit Video/Digitalisierung nur eine neue Phase der Filmgechichte begonnen hat, kann auf verschiedenen Ebenen mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert werden. - Je nach Aspekt finden wir sogar gegensätzliche Befunde. Hier einige Aspekte dazu:

- Der technische Aspekt (Apparatur). Die verschiedenen Kameras (Video und Film) weisen charakteristische technische Unterschiede auf, die verschiedene Verwendungsmöglichkeiten vorzugeben scheinen.

- Die Rezeption (Kino, Fernsehen, Amateurbereich). Auch hier scheint es klare Unterschiede zu geben: Grob gesagt ist die Videotechnik für das Fernsehen, die Filmtechnik für das Kino bestimmt. Dem widersprechen die Bemühungen vor allem der Kamerahersteller, die Videotechnik in Form von HDTV für das Kino „fit“ zu machen. Diesem Ziel stehen noch technische und Kostenprobleme im Weg, aber man will es in etwa 10 Jahren erreichen (d.h. voll digitale Aufnahme und Produktion, Projektion in den Kinos durch Beamer, Vertrieb über das Netz). Dies ist die von mir so genannte Konvergenzthese, die letztlich besagt, daß es in naher Zukunft nur noch „Video“ geben wird, wie immer es dann heißen wird. Der Film stirbt aus bzw. das Wort bezeichnet jetzt etwas anderes.

- Kommerzielle Aspekte Unterstützt wird diese Sicht durch ökonomische Argumente. Die Aussicht, viel Geld zu sparen bei der Produktion von Kinofilmen, hat wohl überhaupt erst das Bedürfnis ausgelöst, die Videotechnik zu professionalisieren und sie von ihrer Bindung an das Fernsehen zu lösen. Die gegenwärtig sich einer Volldigitalisierung auch des Kinos entgegenstellenden Probleme sind neben technischer auch finanzieller Natur (Immense Kosten für die Kameras und deren schnelle Veraltung, hohe Investitionskosten für die Kinotheater, noch kein ausreichend schnelles und leistungsfähiges Netzwerk (müßte ein paar tausend mal mehr Daten verarbeiten können als das gegenwärtige Internet)

- Der historische Aspekt (im Vergleich zum Kino und anderen Medien). Eigentlich würde die Konvergenzthese allen bislang zu beobachtenden mediengeschichtlichen Entwicklungsformen widersprechen: Bislang ist noch nie ein „veraltetes“ Medium ganz ausgestorben (nicht das Theater mit dem Aufkommen des Films, nicht das Radio oder Kino mit dem Aufkommen des Fernsehens). Das würde dafür sprechen, daß der Film auch weiterhin ein Minderheitendasein (oder eine Nischenexistenz) führen würde. Es kommt darauf an, von welchem Gesichtspunkt aus man es betrachtet: Ist der Übergang zur digitalen Bildaufzeichnung (zum HDTV) nur eine technische Neuerung innerhalb der Geschichte eines und desselben Mediums (vergleichbar der Einführung der Ton- oder Farbfilms), oder handelt es sich um eine ganz neues Medium? Mit anderen Worten: Ist „Video“ der Verdränger oder der Nachfolger des Films?

- Die Konvergenzthese Wenn man das letztere annimmt, also der Konvergenzthese nicht zustimmt, dann muß es einen grundlegenden Unterschied zwischen der filmischen und der digitalen Bildproduktion geben, der auch mit der weiteren technischen Verbesserung von HDTV nicht verschwindet. Dieser Unterschied wäre also zwar an technischen Merkmalen festzumachen, aber nur im Hinblick auf die ästhetischen Möglichkeiten oder Gesetze, die sich aus ihnen ergeben. Die Frage: „Kino- und Videoästhetik“ würde also den Kern der Überlegungen treffen.

- Das Verhältnis Technik - Ästhetik Aber der Zusammenhang zwischen Technik und Ästhetik ist kein gradliniger. Es ist nicht so, daß es eine bestimmte Technik gibt, die sozusagen aus sich heraus ausschließlich bestimmte ästhetische Nutzungsmöglichkeiten zuläßt. Wie wir schon aus der Filmgeschichte ersehen können, wurde in der tatsächlichen Entwicklung dieses Mediums seine wohl originärste Eigenschaft, nämlich die, Realität unverfälscht, sozusagen mechanisch abzubilden, fast völlig in den Hintergrund gedrängt: Der Dokumentarfilm spielt gegenüber dem Spielfilm eine marginale Rolle. Dieser Prozeß der schrittweisen Perfektionierung des Filmmediums zu seiner narrativen Verwendung – der die ersten beiden Jahrzehnte der Existenz des Film bestimmte (1895 bis 1915 etwa) – hat nicht nur den Charakter des Mediums verändert (es wurde zum Beispiel auch von einem wissenschaftlichen Instrument zu einer Freizeitunterhaltung), sondern auch die Rezeption des Publikums bis heute bestimmt. Wir sind es gewohnt, weil es Teil unsere Sozialisation ist, daß im Kino fiktive Geschichten erzählt werden mit einer Technik, die eigentlich viel besser Realität wiedergeben kann.

- Der Einfluß kommerzieller Interessen Es scheint fast so, daß mit der Videotechnik sich jetzt ein ähnlicher Prozeß abspielt: Eine Technik, die weit besser als der historische Kinofilm dazu geeignet ist, direkt und ohne Aufwand Realität aufzunehmen (alltägliche Realität), wird nunmehr via HDTV (mit Gewalt, ist man versucht zu sagen) dazu getrimmt, das Kino zu ersetzen – ein Prozeß, der wie im Beispiel des Films, zu 90 % ausschließlich kommerziellen Interessen dient.

- Das Fernsehen als der natürliche Ort für Video Die Anwendung von „Video“ im Fernsehen entspricht wohl eher seinen speziellen Möglichkeiten: aktuelle, schnelle Berichterstattung mit wenig Aufwand und Kosten, Reportage und Interview, Magazinsendungen – ganz abgesehen davon, daß die zentrale Funktion des Fernsehens, die Nachrichtenvermittlung, seit jeher mit Video erfolgte (Nie hat vor dem Nachrichtensprecher eine Filmkamera gestanden).
Die unter diesem Gesichtspunkt „gewaltsame“ Umwidmung oder Umfunktionierung der Videotechnik für den Einsatz im Kino (HDTV) geschieht also vor dem Hintergrund einer relativ stabilisierten Verwendung im Fernsehen (hier ist ein Unterschied zur frühen Filmgeschichte). Es sind aber noch weitere „originäre“ Nutzungstraditionen zu beachten, in denen „Video“ sozusagen „in seinem Element“ ist: der Videoclip, der Werbespot, die Videokunst, das Amateurvideo.

- HDTV und das Fantastische In einem Rundtischgespräch der Zeitschrift cahiers du cinéma verwenden mehrere Gesprächteilnehmer zur Charakteristik von HDTV (bzw. zur Anwendung von Video bei der Produktion von Spielfilmen – nicht bei der Postproduktion) überraschenderweise das Wort „fantastisch“. Meiner Meinung nach geschieht dies vor dem Hintergrund, daß es eine Art (besser eine eingeübte Auffassung) von Kinorealität gibt, zu der „Video“ in einen Kontrast gerät, wenn es „Realität“ anders (besser?) wiedergibt. Es passiert eine fast groteske Umkehrung: Das Kino (d.h. die fiktive Kinorealität) kommt uns, weil wir uns an sie gewöhnt haben, „realistischer“ vor als der „Naturalismus“ (ich verwende diesen Ausdruck nur zur Differenzierung) von „Video“. Daß dies kein Hirngespinst ist, erweist sich aus verschiedenen Indizien, z.B. dem, daß die Techniker des HDTV ein Problem darin sehen, ihrer Bildproduktion einen „Kinolook“ zu verleihen, und daß dafür sogar die Verwendung von Filtern o.ä. vorgesehen ist.

- Resumé Wir sind teilnehmende Zeugen des beschriebenen komplexen Prozesses und sollten als Medienwissenschaftler die fachliche internationale Diskussion über diesen Prozeß aufmerksam verfolgen. Die Lektüre entsprechender Artikel ergibt die erstaunliche Erkenntnis, daß der Zukunftsoptimismus unter dem Markenzeichen HDTV vor allem von kommerziellen Kreisen vertreten wird, während in den technischen Fachkreisen noch große Unsicherheit herrscht, auch deshalb, weil die Beteiligten auch Betroffene sind und ihre Berufsauffassung und –praxis durch die technisch-ökonomischen Umwälzungen in Frage gestellt sehen.

Günter Giesenfeld

2) Tabellarischer Überblick: Technische Unterschiede bei der Bildaufnahme zwischen Film und Video:

3) Tabellarischer Überblick: Technische Unterschiede zwischen einer Aufzeichnung von Ton auf einem Tonband und Bild auf einem Videoband

4) Unterschiede Film – Fernsehen

von Werner Appeldorn, Kameramann, Interview in der Zeitschrift Kameramann (1995), Zusammenfassung in Stichworten mit eigenen Ergänzungen von gg

Kinobild: besteht aus chemischen Farbstoffen mit bestimmten spektralen Eigenschaften
- kann 3,5 Millionen Bildpunkte auflösen
- Blickwinkel des Zuschauers bis zu 35°

Fernsehbild: besteht aus aufglühenden Phosphoren mit bestimmten spektralen Eigenschaften
- diese sind völlig andern als die des Films.
- kann nur 200.000 Bildpunkte auflösen
- ist aus einem größeren Blickwinkel als 10° kaum mehr erkennbar

Kann es somit keine Ähnlichkeit zwischen Filmbild und Fernsehbild geben?

Appeldorn: „Aber spielt das überhaupt eine Rolle? Viele Leute meinen, wenn die Geschichte spannend oder die Information interessant ist, dann hol’ der Teufel diese perfektionistischen Künstler mit ihren unsinnigen Ansprüchen!
Wer dieser Auffassung ist, ist zu bedauern, wird er doch nie wirklich begreifen, weshalb die eine Produktion erfolgreich, und die andere ein Flop ist. Natürlich können eine spannende Geschichte oder eine interessante Information auch dann noch eine gewisse Wirkung beim Zuschauer haben, wenn sie mit gestalterischen und technischen Mängeln behaftet sind. Aber eben nur eine gewisse Wirkung.“

Der Zuschauer, das unbekannte Wesen

Wodurch werden die Reaktionen des Zuschauers ausgelöst?

„Will man diese Frage beantworten, muß man wissen, daß der Wahrnehmungsapparat des Menschen tausendmal leistungsfähiger ist als Windows 95. An allen Ecken und Enden des Gehirns sind Hochleistungscomputer damit beschäftigt, das Wahrgenommene nach allen möglichen Gesichtspunkten zu untersuchen und zu bewerten. Erstaunlich ist die Informationsmenge, die unser Auge aufnehmen und unser Gehirn verarbeiten kann. (…) Eine Abteilung in unserem Wahrnehmungsapparat abstrahiert das meiste von dieser Fülle und beschäftigt sich nur mit dem Wesentlichen“ und ein anderer Teil nimmt gleichzeitig alle anderen ausgeschiedenen Informationen auch noch auf. (z.B. Details, die nicht für die Handlung oder die Figuren in einem Spielfilm interessant sind). Aus dieser „Abteilung“ erhält der Zuschauer Informationen zu Fragen wie: Paßt alles zusammen? Ist das Gezeigte echt und glaubwürdig? Kurz, er nimmt die Atmosphäre der Szene wahr und ihren Beitrag zum Fortgang der Handlung.

Hier spielt der Unterschied in der Auflösung eine entscheidende Rolle:
- Kinofilm: in jeder Sekunde 84 Millionen Bildpunkte
- Fernsehbild: 5 Millionen Bildpunkte in der Sekunde.

Solche technischen Größen sind nicht ohne Einfluß auf die Rezeption. Es stimmt nämlich nicht, daß man als Zuschauer so viele Millionen Bildpunkte gar nicht wahrnimmt! Es geht um die Frage: Abstraktion oder Detailfülle?

„Beim Ansehen eines Kinofilms ist die zweite Abteilung unseres Wahrnehmungsapparates voll beschäftigt.“ Die Bartstoppeln des Kommissars, die Wüstenatmosphäre in Ben Hur. „Wer glaubt, alles das habe keinen Einfluß auf die Art und Weise, wie die erste Abteilung die Geschichte sieht, braucht Nachhilfe in der Filmgeschichte.“

Feinheiten in solcher Fülle kann das Fernsehen nicht vermitteln. Streng genommen ist Fernsehen eigentlich abstrakt, weil es nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus der Fülle der Wirklichkeit wiedergibt, die uns ständig umgibt. Die "Atmosphäre" ergänzen wir aus unserer Alltagserfahrung, sie ist nicht mehr (oder nur sehr selten) Ergebnis eines bewußten künstlerischen Konzepts. „Das gilt auch für die Feinheiten der Strukturen (die im übrigen auch die „Glaubwürdigkeit“ der Farben beeinflussen).“

Weiterer Unterschied: Wegen der Größe der Leinwand kann das Auge des Betrachters aktiv über die Leinwand wandern, während es beim Fernsehen „mehr oder weniger passiv auf einen kleinen Fleck starrt.“ Man müßte einmal mit entsprechenden Versuchanordnungen untersuchen, wie sich die Rezeption eines Kinofilms verändert, wenn wir ihn im Fernsehen sehen.

5) Film ohne Film
Konkrete Planungen der Filmindustrie bis 2020
aus einer Studie der Gesellschaft ARP (auteurs-réalisateurs-producteurs)

Bis 2020 wird der Film in 16 oder 35 mm praktisch verschwunden sein. Die Filme werden digitalisiert und per Netz oder Satellit in die Kinos geschickt. Die Firma Thomson plant, bis 2012 1.500 Kinos in den USA und Kanada digital auszustatten. Europa wird gezwungen sein, nachzuziehen, zwei Länder haben schon damit begonnen: Großbritannien und Irland. Im Juli 2005 haben sich die sechs "Majors" (Sony, Paramount, Disney, Universal, 20th Century Fox und Warner Bros.) mit der US-National Association of Theater Owners (NATO) über die Formate, in denen die Filme ausgetauscht werden, geeinigt.

Man rechnet damit, daß bis 2020 der gesamte Prozeß der Filmproduktion und -rezeption nur noch digitalisiert von statten gehen wird. Nach Voraussagen der ARP wird für die gesamte Produktion eines Films inkl. Videospiel nur noch eine Zeitspanne von vier Wochen nötig sein. Die Postproduktion wird in Echtzeit gleichzeitig in allen fünf Kontinenten vorgenommen werden. Diese Beschleunigung wird als die effektivste Maßnahme gegen Piraterie angesehen.

Die Filme werden gleichzeitig in den verschiedenen Formaten zugänglich sein: auf allen Leinwänden, auf dem Handy, auf den Spielkonsolen und in den Wohnungen als DVD. Es wird auf Bahnhöfen und Flughäfen Wegwerf-Multimedia-Player geben, die nur einmal funktionieren. Niemand weiß, wie sich unter diesen Umständen die Zahl der Kinos verändern wird. "Zukünftig haben nur noch solche Kinos eine Chance, die einen Qualitätsvorsprung gegenüber den Heimgeräten haben, welch letztere sich aber sprungartig verbessern wird." (Jean-Charles Hourcade, Thomson). Aber "es wird trotzdem noch ein gewisses Bedürfnis geben, ins Kino zu gehen, als Abendvergnügung, die vielleicht den Charakter von ‚Digitalfesten' annehmen werden, mit interaktiver Hypermedia-Präsentation." Die Premieren in Kinosälen sind außerdem wichtige Marketing-Events, die die Studios derzeit noch brauchen, um die Nebenprodukte zu verkaufen.

Aber: Schon 2004 ist in den USA der Erlös durch den Verkauf und Verleih von DVD von Filmen (24 Mrd US-$) höher als der durch die Kinos erzielte.

Schauspieler: Gegenwärtig bietet die Firma Moving Picture Company (englische Filiale von Thomson) bereits die künstliche Produktion von bis 60.000 Komparsen an. Die Firma hat für den letzten Harry Potter und für Da Vinci Code Komparsen generiert. In einigen Szenen von Terminator 3 wurde Arnold Schwarzenegger bereits durch ein "digitales Double" ersetzt. "In allen Verträgen mit Schauspielern wird in der Zukunft eine Klausel enthalten sein, die das Klonen der Figur, die der Schauspieler spielt, betrifft (erlaubt). Figuren komplett künstlich zu generieren (etwa von verstorbenen Stars) gelingt noch nicht perfekt genug (die Augen sind das Problem). Aber im MIT (Massachusetts Institute of Technology) arbeitet man bereits in-tensiv an diesem Problem. In Robert Zemeckis Firma Image Movers und bei Sony arbeitet man an einem Verfahren namens performance capture: Szenen werden ohne Kamera, ohne Beleuchtung und ohne Set gedreht. Der Schauspieler spielt und spricht, an seinem Körper befestigte Sonden speichern seine Bewegungen und Worte auf einem Computer. Der Regis-seur kann sie anschließend abrufen und nach Belieben auf eine digital generierte Figur über-tragen. Zwei Filme sind in Arbeit, die diese Technik benutzen: Monster House und Beowulf (Kinostart Juli 2006 bzw. 2007).

Quelle: Le Monde 11./12. Dezember 2005.
Übersetzt von Günter Giesenfeld