Grenzüberschreitungen

William und Madeleine haben ihr Berufsleben hinter sich oder aus dem Mittelpunkt ihres Lebens verdrängt. Sie kaufen sich einen alten Bauernhof, skurril und malerisch wie eine Filmkulisse, und mit den Freuden des Müßigganges und der Gärtnerei entdecken sie neue Sinnenlust. Ein schönes Happy End beginnt und der Film mit dem Titel Malen oder Lieben (von den beiden Regisseursbrüdern Arnaud und Jean-Marie Larrieu) könnte hier eigentlich aufhören. Aber das späte Glück erfährt eine unerwartete Vertiefung. Die Beziehung zu ihren neuen Nachbarn, dem blinden Adam und seiner jungen schönen Frau Eva nimmt einen immer erotischeren Charakter an. Vor allem William verstört dieser Bruch mit seinen eingeübten Verhaltensweisen zunächst, aber nach dem Partnertausch stellt sich eine unkomplizierte, alle vier ergreifende Zärtlichkeit ein.

Sie ist jedoch vielleicht nur von kurzer Dauer, denn Adam und Eva haben sich entschlossen auszuwandern, "auf die Insel", die irgendwo in der Karibik zu liegen scheint. William und Madeleine überlegen, ob sie das Haus verkaufen und mitkommen sollen. Als dann Mathieu und Julie auftauchen, angebliche Interessenten für das Haus, und sich herausstellt, daß sie ein Swinger-Pärchen sind, beschließen William und Madeleine, doch zu bleiben. Die neue sinnliche Freiheit, so erkennen sie, darf nicht in alte Bindungen führen.

Auch dieser zweite Partnertausch wird als ein positives Erlebnis für alle dargestellt. Elegant und spielerisch vermeidet die Inszenierung jegliche Assoziation an naheliegende Klischees. Insofern mag der Film einem normal sozialisierten Zuschauer tatsächlich als "so possierlich wie irrational" (epd-Film) erscheinen. Auch die spielerisch-plakativen Metaphern (der Blinde, der zum Führer durch den dunklen Wald wird, Adam und Eva) drängen sich nicht in den Vordergrund. Darüber hinaus macht der Film keinen Versuch, die Figuren moralisch zu kategorisieren, ihr Handeln zu hinterfragen. William und Madeleine sind allein verantwortlich für eventuelle Fragwürdigkeiten oder Klischeehaftigkeiten ihres späten Glücks.

Der Erzähler scheint sich überhaupt gar nicht so sehr für das zu interessieren, was hier thematisiert wird: Sex, Glück, Liebe. Die Liebe ist auch nicht andeutungsweise Anlaß und dramaturgische Erscheinungsform gesellschaftlicher Kontroversen und Widersprüche, sie ist keine Instanz eigener Qualität, nicht aller Handlungen und Leiden letzte Triebkraft. Deshalb kann sie sogar eine zuweilen penetrant erscheinende kleinbürgerliche Erscheinungsform annehmen, ohne die raffiniert ausbalancierte Leichtigkeit der Erzählung aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Eine eventuelle künstlerische Absicht läßt sich allenfalls aus Details erschließen. Da fällt zunächst auf, daß auf alle jene filmtechnischen Mittel verzichtet wird, die normalerweise den Figuren eine klare Kontur verleihen. Bei Gegenlichtaufnahmen wird konsequent nicht aufgehellt, eine "natürliche" (keine offensichtlichen künstlichen Mittel benutzende) Lichtführung verweigert uns jene detailgenaue "Klarsicht", die wir im Kino gewöhnt sind. Und wenn der blinde Adam aus Versehen über das Lampenkabel stolpert, sehen auch wir vor der Leinwand einen Moment lang nichts mehr.

Weiterhin scheint dieser Erzähler keine Furcht vor peinlichen Situationen zu haben. Von den Partnertausch-Szenen erleben wir nur das anfängliche schüchterne Zögern, das aber in demonstrativer Ausführlichkeit. Der einzige wirklich spektakuläre Vorfall, das Abbrennen des Hauses von Adam und Eva, markiert keine wirkliche dramaturgische Zäsur.

Genau wie die Protagonisten plötzlich lustbestimmt handeln wie Kinder, fühlen wir uns im Kino in eine Welt versetzt, die nicht mehr nach den Kinoregeln funktioniert. Und das in einer Sexgeschichte, wo sonst jeder Filmmeter mit Spekulationen, Tabus und Klischeefallen gepflastert ist. Die Fabel ist hochkünstlich, konstruiert - und doch durchlüftet uns der Film wie ein leichter Sommerwind voller Anspielungen und Glücksversprechen. Er überwältigt uns nicht, sondern geht nur ein ganz kleines bißchen unter die Haut. Gleichgültig, wie sehr das Kinoerlebnis uns anrührt, es bleibt unseres, unter unserer Kontrolle.

Günter Giesenfeld