Realität oder Hollywood?

"Wer das Genrekino nicht für das Maß aller Dinge hält, wird niemals begreifen, warum man sich all diese Probleme bereiten kann, die aus München zugleich einen konsumierbaren Thriller und ein befremdliches Rätsel machen" schreibt die Frankfurter Rundschau, aber wer das Dilemma von Steven Spielbergs Film (oder das Dilemma, das wir mit ihm haben) auf diesem Niveau formuliert, der stellt schon nicht mehr die Frage, ob etwa die Darstellung der Ereignisse von München 1972 ‚stimmt' oder, auf welcher Seite der Film bei der Bestimmung von Kausalität und Konsequenzen steht. Die provokativ gewollte Unparteilichkeit dieses Films führt zu eigentlich unakzeptablen Konstruktionsmängeln: Auf eine fast schon infantile Weise wird dem wohl effektivsten Geheimdienstes der Welt, dem israelischen Mossad, unterstellt, er betraue ein Team von harmlosen Amateuren mit der Aufgabe, die Opfer des Anschlags zu rächen, der orientiert sich nicht mehr an einer leicht erschließbaren Realität, sondern an Konventionen von Katastrophenfilmen, in denen unsere Welt stets von einer Gruppe von skurrilen Gestalten gerettet wird, deren Stärke (so die romantische Unterstellung von Filmen wie Independence Day) eben ihre Unprofessionalität ist.

Der wirklichen Welt der Politik, die als Reaktion anscheinend nur noch Zynismus zuläßt, wird eine neue (alte) Unmittelbarkeit, eine neue (traditionsreiche) Unschuld entgegengesetzt, die allein imstande ist, angesichts von Gewaltbereitschaft und Korruption noch einen humanistischen Standpunkt zu finden, und sei es um den Preis eines weltfernen und skurrilen Gutmenschentums. Bezeichnend für diese Tendenz ist die Szene auf einem Bauernhof in der französischen Provinz, wo wie ein Gespenst aus dem französischen "poetischen Realismus" der 1930er Jahre ein Patriarch auftaucht (gespielt von Michael Lonsdale, einer Ikone aus Filmen der Nouvelle Vague von Rivette oder Eustache), der inzwischen Oberhaupt eines dekadenten Gangsterclans geworden ist.

Das Rekurrieren auf das europäische Autorenkino bleibt ebenso beiläufig wie die Titelgebenden szenischen Zitate aus den Ereignissen von 1972: hyperrealistische, Gewaltinszenierungen in München und Fürstenfeldbruck, eine Golda Meir, deren zynische Bemerkungen ausschließlich die Figur charakterisierende Funktion haben sowie die Darstellung der palästinensischen Terroristen als im Grunde Getriebene. All das kann gelesen werden als Verweigern einer eindeutigen Parteinahme, ist aber in Wirklichkeit die vom Genrekino geforderte Konzentration auf eine Mittelpunktsfigur und ihre "Wandlung".

Und so ist der Film um einen historisch entleerten Kern herum konstruiert: die fiktive Figur des naiven Avner, der im Handeln Einsichten gewinnt, die aber nicht politischer Natur sind, sondern nur im Hinblick auf seinen Reifungsprozeß inszenierte Stationen. Dabei kommt es zu erstaunlichen Fehlern und Geschmacklosigkeiten des Profis Spielberg: So erleben wir erstaunt mit, wie vor Avners innerem Augen, beim Sex mit seiner Frau und werdenden Mutter eines kleinen Mädchens - die glückliche Familie mit einem stets weiblichen Kind ist ein ururaltes Hollywood-Klischee - Szenen aus München vorbeiziehen, die er gar nicht kennen kann, es sei denn er habe den Film gesehen, in dem er mitspielt.

"Vraisemblance" war ein zentraler Begriff des klassischen französischen Barocktheaters. Die Wahr-scheinlichkeit bezog sich dabei ebensosehr auf Idealvorstellungen von Menschlichkeit wie auf Ideologien der feudalistischen Herrschaftslegitimation, nicht aber auf eine realitätsbezogene Sicht. "Wahrheit" war nur noch die Plausibilität innerhalb einer Allgemeingültigkeit beanspruchenden Wertewelt.

Im ‚klassischen' Hollywoodkino erscheint die Fiktion einem entsprechend sozialisierten Publikum längst als die ‚wahrere' Realität, auch wenn es sich um die Reproduktion von historischen Ereignissen handelt. "Realistisch" kann dieser Stil jedoch nicht sein, denn er präsentiert seine Wahrscheinlichkeit als Steigerungsform und nicht als Derivat von ‚Wahrheit'. Das Genrekino ist Spielbergs höchste und einzige Ästhetik, obwohl er gelegentlich bis an den Rand ihrer Verfremdung geht (Schindler's List). Will er mehr als sein Modell kann, enthalten seine Filme rätselhafte Momente, oder er rettet sich in einen oberflächlichen, nichtssagenden Symbolismus: An Ende ragen in der Silhouette von New York (noch unversehrt) die Türme des Word Trade Centers empor.

Günter Giesenfeld