Reaktionäres Lehrstück

Es gibt grundsätzlich zwei Weisen, mit denen sich das Kino der Realität nähern kann, und die ihre je immanenten Regeln haben: Einmal kann es in die Wirklichkeit eindringen, ihr Inneres mit dem Zweck bloßlegen, die Folgen einer (fehlgeleiteten) Entwicklung deutlich werden zu lassen, wofür es nötig ist, diese Realität zur Richtschnur der Darstellung zu nehmen. Die erzählte Geschichte muß in einer bestimmten Weise "wahr" sein. Die andere Möglichkeit könnte man mit dem Begriff "Allegorie" charakterisieren, hier tritt die bewußte Konstruktion an die Stelle des sich Hingebens an das Vorgefundene. Die erzählte Geschichte soll etwas beweisen, ein höheres Wissen um die Gesetze des menschlichen Daseins vermitteln, eine Idee (über sie) beispielhaft illustrieren.

Es mag die verschiedensten Ausprägungen dieser künstlerischen Alternativen geben, auch solche, die sie einander annähern. Im Falle von Lars von Triers beiden ersten Filmen einer Amerika-Trilogie (Dogville und Manderlay) kann es keinen Zweifel geben: Es sind Lehrfilme der reinsten Art. In ihnen wird die Handlung auf einer im Studio aufgebauten Spielfläche "aufgeführt", auf der die Orte, (Zimmer, Höfe etc.) nur durch Kulissenfragmente und Grundrisse auf dem Bühnenboden angedeutet sind. Nicht vorhandene Türen werden gestisch geöffnet und geschlossen, der Soundtrack liefert das Geräusch dazu.

Wer so exakt die filmische Welt als eigene imaginierte Versuchanordnung erscheinen läßt, der erweckt die Erwartung, eine unfehlbare Deutung des Gezeigten liefern zu wollen, eine Vision exemplarisch auszuprobieren, die ihrerseits nicht als hinterfragbar erscheint. Über fast die gesamte Laufzeit dieses Films hinweg wird dem Publikum zwar die Demokratie als diese Idee nahegelegt, am Ende aber wird gerade sie hinterfragt, enttarnt und radikal in Zweifel gezogen. Die Hauptfigur Grace (= Gnade), die schon in Dogville Ähnliches versucht hatte, möchte nun den auf der abgelegenen Baumwollplantage "Manderlay" noch in Sklaverei lebenden Schwarzen die Befreiung bringen, scheitert aber daran, daß die Befreiten sich am Ende nach dem geregelten Leben in der Unterdrückung zurücksehnen und ihr die Position der verstorbenen Herrin andienen. Moral von der Geschichte: Demokratie ist schlechter als Sklaverei, denn die Sklaven sind sowieso die eigentlichen Herren.

Das Dilemma des Films ist, daß Lars von Trier am Ende durch das Einblenden von Fotos, auf denen der Däne Jacob Holdt das Elend und die Unterdrückung der Schwarzen in den USA eindringlich abgebildet hat, diese Folgerung zu verhindern sucht. Aber der Rückgriff auf die dokumentarischen Wirkungsfunktionen des Bildes kann nicht mehr widerlegen, was der Regisseur selbst im Lehrstück eindeutig (und platt) vorgegeben hat.

Denn Grace, die Freiheit bringende Hauptfigur in dieser Legende, ist ein junges unerfahrenes Mädchen (in der Tradition der Scarlett O'Hara aus Gone with the Wind), das seinen Willen mit Idealismus und der Kurzsichtigkeit eines rein moralischen, gefühlsbetonten Handelns durchsetzen will. Kurz gesagt: Die Idee von Demokratie, die sie verkörpert, ist kindlich naiv und wird von Lars von Trier zudem häufig als Karikatur vermittelt, etwa wenn die Uhrzeit durch Abstimmung festgelegt wird.

In einer Szene wird eine Frau, die aus Hunger Mahlzeiten gestohlen hat, die für ein krankes Kind reserviert waren, auf einer Versammlung zum Tode verurteilt, und Grace bietet sich an, die Strafe selbst zu vollziehen, "damit es nicht als Rache aussieht". Sie geht zu der Frau, belügt sie, man habe sie nicht für schuldig befunden und tötet sie dann im Schlaf durch einen Pistolenschuß. Die tränenreichen Qualen, die sie dabei erleidet, sollen wohl einen tragischen Konflikt andeuten, aber als Charakter wird die Kleinmädchenfigur dadurch dekonstruiert (ebenso wie durch die sexuellen Bedürfnisse, die Trier ihr zuzuordnen für sinnvoll hält, und durch die peinliche Szene, in der ihr reiner Astralleib vom vitalen Neger "durchgefickt" wird - "das hat ihr gefehlt", jubelt der Stammtisch). So wird auch die einzige Möglichkeit verspielt, die das sinnenleere und entdinglichte Arrangement geboten hätte, künstlerisch glaubwürdig zu wirken: Starke, konsistente Charaktere als adäquate Protagonisten ihrer Ideen auf der abstrakten Experimentierbühne.

Fehlt nur noch, daß am Ende der Himmel sich öffnet, wie in Breaking the Waves, und daß wir die Stimme des HErrn vernehmen: "Wahrlich, Wahrlich, ich hab's euch ja schon immer gesagt…"

Günter Giesenfeld