Mathilde Poirot

Der neueste Film von Jean-Pierre Jeunet Mathilde - Eine große Liebe ist auf den ersten Blick ein Liebesfilm. Und doch hat der Regisseur von Amélie (2001) einen sehr großen Teil der Produktionskosten (45 Mio. Euro) in die Inszenierung von Kriegsszenen gesteckt, vielleicht, weil es in filmischen Dramaturgien kaum ein besseres Pendant gibt zu einer ewigen und alles überdauernden Liebe gibt, als den Krieg. Die wegen Kinderlähmung leicht gehbehinderte Mathilde verliebt sich in den jungen Manech, der bald darauf in den (ersten Welt-) Krieg muß. Er und vier seiner Kameraden versuchen, den Grabenkämpfen an der Somme durch Selbstverletzung zu entgehen. Sie werden zum Tod verurteilt, die Exekution überläßt man dem deutschen Feind: Zwischen die Linien geschickt, kommen sie nach und nach auf gräßliche Weise um.

Mathilde mag nicht an den Tod ihres Geliebten glauben, und das Schicksal der fünf wird im Lauf ihrer hartnäckigen Recherchen aufgerollt. Jedes gefundene Detail wird in überaus "naturalistischen" Rückblenden verlebendigt. Der "Krieg" wird dabei immer präsenter, gleichzeitig verlagert sich die dramaturgische Perspektive vom Liebesdrama in Richtung Detektivgeschichte, was auch daran liegt, daß die suggerierte außergewöhnliche Tiefe dieser Liebe selbst durch die Szenen auf dem Leuchtturm (Titanic läßt grüßen) kaum glaubhaft wird.

Mathildes Suche ist gegen alle Erwartungen erfolgreich, Manech lebt, aber er hat durch eine Anmesie jegliches Erinnerungsvermögen verloren. Immerhin kann er schon wieder sprechen, und das Lieben wird er auch wieder lernen. Diesem relativ einfachen Plot mit diskret in die Zukunft verlegtem Happy end widersprechen die dramaturgisch-inszenatorischen Akzente des Films, es kommt ansatzweise eine andere Raum- und Sinnkonstruktion ins Blickfeld. Die an Hercule Poirot erinnernde Investigation Mathildes findet in der Idylle herbstlich beleuchteter Landschaften statt, durch die ein Renoir-gefärbter Wind der Kleine-Leute-Solidarität weht. Dem gegenüber stehen die Kriegsszenen. die in der Darstellung des Sterbens alle gräßlichen Details in Großaufnahme ins Bild bringen, die sich ein Drehbuchautor, der die entsprechenden Filme seit All Quiet on the Western Front (1930) kennt, nur ausdenken kann.

Aber auch diese dramaturgische Disposition, mit der sich vieles über "französische Zustände" im und nach dem Weltkrieg gestalten ließe, ertrinkt in dem, was man den megalomanischen Touch des Films nennen könnte. Schon die Kriegesszenen sind eine immer aufwendiger inszenierte Eskalation der Zerstörung, bis hin zur Explosion eines mit Helium gefüllten Zeppelins im Notlazarett. Aber auch in den zunächst poetisch-realistisch anmutenden Nachkriegsszenen gibt es kaum eine Einstellung ohne den demonstrativen Einsatz moderner Aufnahme-Technik. Eisenbahnzüge werden rasant mit fliegender Kamera umkreist. Ein Auto, das durch die Bretagne fährt. wird gefilmt, als handle es sich um das Rennen Paris-Dakar. Jedes Gebäude ist als majestätisches Tableau symmetrischer Einschüchterungs-Architektur präsentiert, und die Landschaftsbilder sind grafisch ausgeklügelte Kompositionen à la National Geographic Magazine. An jedem Ort, in jeder Situation ist das große Symphonieorchester dabei und macht klar, wie großartig doch das Ganze ist.

Der Filmhistoriker Guy Austin hat für einige Regisseure der 1990er Jahre (Beineix, Carax, Besson) den Ausdruck "cinéma du look" geprägt. Gemeint sind Filme, bei denen die warenmäßige Erscheinungsform (engl. "look") wichtiger ist als Inhalt oder Aussage. Der ehemalige Werbefilmer Jeunet scheint ein rechtmäßiger Enkel dieser damaligen Rebellen gegen das "schöne" und "ernsthafte" Kino zu sein. Aber es handelt sich nicht nur um eine Erscheinung des französischen Kinos. Die Betäubung der Aufnahmebereitschaft und Denkfähigkeit der Kinozuschauer durch die reine Eskalation der (Spezial-) Effekte ist eigentlich ein Merkmal des amerikanischen Blockbusterstils, aber dort sind diese sozusagen der eigentliche Inhalt der Filme, es bleibt neben ihnen nichts mehr wahrzunehmen. Im Kino des sich als Autorenfilmer verstehenden Franzosen droht hinter ihnen wie unter einem Zuckerguß ein immer noch als Möglichkeit präsenter Inhalt zu verschwinden, und mit ihm die Kraft der bewegten Bilder, Erfahrungsräume zu öffnen. Und bald wird bei den Zuschauern auch das Bedürfnis nach jeglicher aktiver Nutzung der Bilderwelten des Kinos verschwinden.

Günter Giesenfeld