Der neunte Tag

Volker Schlöndorff wurde bei einer Diskussion anläßlich des Starts seines neuen Films Der neunte Tag gefragt: "Warum machen Sie immer wieder unbequeme Filme?" Seine Antwort war weitschweifig und differenziert, leider lief kein Band mit. Aber sie läßt sich resümieren in dem Satz: "Weil es so viele bequeme Filme gibt." Man dies auf zweierlei Weise verstehen: Einmal ist das Thema unbequem, weil politisch, und hier sogar der Holocaust, zum anderen sind solche Filme nicht einfach zu konsumieren, erlauben nicht so leicht jene berühmte "Identifikation", die als Groschen-Argument schon bis in die Reklameschriften der Filmverleiher vorgedrungen ist.

Schlöndorffs Film ist weder spektakulär noch genialisch, er ist ein solides Stück Kunst und kein Mega-Event, weder eine atemberaubende Anreihung "erschütternder" Schauspieler-Auftritte, noch eine Eruptionen "großer" Gefühle und schon gar nicht ein Feuerwerk aus special effects. Deswegen dürfte er auch kaum ein Blockbuster werden, so sind die Gesetze des Markts nun mal heutzutage. Und doch tut der Film das, was das Kino, so wie es nun einmal geworden ist, am besten kann: Er erzählt eine Geschichte, und das nach allen (klassischen) Regeln der Kunst.

Der luxemburgische Priester Henri Kremer wird plötzlich aus dem Konzentrationslager Dachau, wo im "Pfarrerblock" jüdische und katholische antifaschistische Geistliche den Schikanen der Wächter ausgesetzt sind, entlassen. Erst in der Heimat erfährt er, warum: Er soll innerhalb von neun Tagen "Urlaub" dafür sorgen, daß der Bischof von Luxemburg, der nicht mit den Nazis kooperieren will, seine widerspenstige Haltung aufgibt. Gelingt ihm dies und bekennt er sich selbst zum Faschismus, soll er freikommen und seine Konfrates in Dachau auch. Flieht er oder enthüllt er den Deal, werden er und sie getötet.

Im Zentrum des Films steht ein vorwiegend mit Worten ausgetragener Zweikampf zwischen Kremer (hohlwangig, großäugig, zumeist stumm) und dem karrieregeilen Gestapo-Mann Gebhardt (elegant, schmierig, eloquent). Gebhardt präsentiert sich als ein Vertreter der Macht, mit dem man reden kann, der selber fast Priester geworden wäre und manches nicht gut findet am Nationalsozialismus und deshalb auf der Hut sein muß, daß er nicht wegen Aufmüpfigkeit in ein KZ abkommandiert wird. Kremer wächst in diesem Duell die Rolle des aufrechten Helden zu, der er nicht ist, den er aber spielen muß. Im Lager hat er den Tod eines Mitgefangenen verursacht, weil er das Wasser aus einer tropfenden Leitung nicht mit ihm geteilt hat. Gebhardt weiß das und erpreßt ihn mit den eigentlich unmenschlichen Regeln des Heiligseins. Der Gestapomann ist stark, weil er skrupellos ist - er identifiziert sich mit Judas als einer bösen, aber "realistischen" Figur. Für Kremer ist die Verführung durch die Menschenwelt, für Gebhardt die moralische Integrität des Gottesreiches die jeweils existentielle Herausforderung.

Schlöndorff ließ sich von dem Tagebuch eines Priesters inspirieren, in dem die Figur des Gebhardt nicht auftaucht. Er sucht nicht eine Authentizität der Reproduktion "wie es wirklich war", sondern er zeigt das ‚Heldentum' und das ‚Dämonische' als zwei Ausprägungen menschlicher Größe und Degeneration, die persönliche Integrität und die machtgestützte Hybris. Das ist ein gedankliches Niveau, das der kurz zuvor in die Kinos gekommene Film Der Untergang nicht nur nicht erreicht, sondern sogar verhindert, wie es alle jene Filme tun, die der Tradition der "Vergangenheitsbewältigung" zugehören. Und es ist gerade die bewundernswerte schauspielerische Leistung des großen Bruno Ganz, der eine falsche Naivität, die freiwillige Selbstkontrolle des Denkens zelebriert, wenn er auf Anweisung von Regisseur und Drehbuchautor dem billigen Klischee huldigt, hinter Hitler gäbe es einen Menschen zu entdecken, und diesem damit zu unverdienter Tragik verhilft. Als Zuschauer schwanken wir hilflos zwischen Bewunderung und Erschrecken, wie die kleine Sekretärin, die nicht zufällig am Schluß die Hoffnung Deutschlands verkörpert. Dazu paßt, daß dieser Film einen "Bambi" erhielt, und daß die Laudatio von Helmut Kohl vorgetragen wurde.

Schlöndorffs Film repräsentiert demgegenüber eine Kultur der Nachdenklichkeit, die dem Kino weitgehend abhanden gekommen ist. Er bietet seinen Zuschauern ein Forum des Geschichts- und Selbstverständnisses und ist damit lebensnotwendige geistige Kost in geistlosen Zeiten, oder, wie Schlöndorff es nennt, "guter alter Humanismus".

Günter Giesenfeld